Im letzten Jahr brachte die »Schwäbische Post« im Zusammenhang mit dem neuerschienenen Buch »Und trotzdem Brüder« von Prof. Dr. Armin Hermann, das die deutsch deutsche Geschichte der Firma Carl Zeiss aufarbeitet, einen Bericht, in welchem das Schicksal einer im Zusammenhang mit dem gescheiterten Volksaufstand in der »DDR« auseinandergerissenen Familie, die drei Jahre nach dem Volksaufstand von 1953 in Oberkochen eine neue Heimat fand, geschildert wird.
Der Bericht ist so spannend, dass wir uns vom Chefredakteur der Schwäbischen Post, Dr. Rainer Wiese, sowie beim Verfasser des Berichts, Prof. Armin Hermann, die Erlaubnis einholten, ihn in unserer heimatkundlichen Serie »Oberkochen - Geschichte, Landschaft, Alltag« abdrucken zu dürfen. Beide Genehmigungen, sowie die Einwilligung von Ruth Norkus, heute 80 Jahre alt, liegen uns vor. Ihr Gatte Eckardt Norkus ist leider schon sehr früh, nämlich im Alter von 56 Jahren, gestorben.
Frau Norkus ergänzte den Bericht mit den persönlichen Angaben, dass Sohn Uwe, einer der Schüler einer 2. Klasse, (heute 6. Klasse) die mir im Jahr 1962 am Progymnasium zugeteilt wurde, im Jahr 1953 drei Jahre alt war. Ruth Norkus erinnerte sich außerdem, dass sie damals 8 Tage lang nicht wusste, wo ihr Mann ist, und was mit ihm geschehen würde. Sie wusste auch nichts von dem Prozess....
Dietrich Bantel
Hier der Bericht vom 26. März 2003:
Zeitgeschichte / Vor 50 Jahren
Verhaftungen beim Volkseigenen Betrieb Carl Zeiss Jena
Prozess eine offenkundige Vergewaltigung des Geistes
Wie überall bei den Staatsunternehmen in der DDR war auch beim Volkseigenen Betrieb Carl Zeiss Jena mit seinen 13500 Mitarbeitern »Sand im Getriebe«. Weil die Partei immer alles richtig machte, mussten wieder einmal »Volksschädlinge« am Werke sein. Am 21. März 1953 wurden 15 leitende Mitarbeiter als »Bande von Spionen« von der Staatssicherheit festgenommen. Dem kaufmännischen Direktor, dem Justitiar und einem weiteren Mitarbeiter gelang im letzten Augenblick die Flucht nach Westberlin.
Dr. Hugo Schrade, der technische Direktor, informierte die Belegschaft, dass die 15 »gekauften Schädlinge« den »Weltruf unserer Qualitätserzeugnisse« hätten untergraben wollen. Aber auch er war bereits im Visier. Schrade gehörte zu den 31 weiteren Zeiss Mitarbeitern, bei denen, wie es in den Stasi Akten hieß, »das bisherige Material zur Festnahme noch nicht ausreicht« und die deshalb »operativ bearbeitet« werden mussten. Sie wurden durch »lnformelle Mitarbeiter« beobachtet, ihre Freunde und Nachbarn ausgehorcht und in ihre Wohnungen und Büros Abhöranlagen eingebaut.
Am 27. März fand im Werk eine »Aktivtagung« der SED statt, auf der ein Parteiagitator den Mitarbeitern die Augen öffnen sollte über die Machenschaften der verhafteten »Banditen«. Der Hauptvorwurf war ihre Zusammenarbeit mit Carl Zeiss Oberkochen zum (angeblichen) Schaden des volkseigenen Betriebes in Jena
Wie zwei deutsche Staaten gab es zwei Betriebe mit dem Namen »Carl Zeiss«: Das Traditionsunternehmen in Jena und das neue, 1946 gegründete Zeiss Werk in Oberkochen. Diese Dualität war dadurch entstanden, dass die Amerikaner im April 1945 Thüringen erobert hatten. Weil das Land zum sowjetischen Besatzungsgebiet bestimmt war, zogen sich die Amerikaner Ende Juni wieder zurück, nahmen aber mit vielen anderen Spezialisten auch 84 Spitzenmanager, Wissenschaftler und Ingenieure des Jenaer Zeiss Werkes mit in den Westen. Diese 84 Männer bauten in Oberkochen eine neue Produktion auf, und hier fanden viele Flüchtlinge aus Jena wieder einen Arbeitsplatz.
Bei der »Aktivtagung« am 27. März 1953 behauptete der Parteiagitator ganz unsinnig und unhistorisch, bei ihrem Abtransport aus Thüringen hätten die Geschäftsleiter einige der in Jena zurückbleibenden Mitarbeiter darauf verpflichtet, »dem Werk in Oberkochen jede erdenkliche Unterstützung zukommen zu lassen zum Schaden unseres volkseigenen Betriebes«. Richtig war nur, dass sich die Mitarbeiter in Jena und Oberkochen immer noch als zusammengehörig betrachteten und einander gegenseitig unterstützten. Der Sinn der ganzen Verhaftungsaktion bestand gerade darin, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Zeissianer in Ost und West zu »zerschlagen«, wie der Lieblingsausdruck der SED lautete.
In zwei getrennten Verfahren vor dem Bezirksgericht in Gera wurden die zuletzt noch zehn angeklagten Zeiss Mitarbeiter zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Der Verkaufsleiter der Firma war während der Untersuchungshaft unter heute ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Einer der Verteidigung berichtete später den Oberkochenern: Die Zeissianer hätten vor Gericht »eine bewundernswürdige Haltung bewiesen« und gezeigt, »dass dieser Prozess eine offenkundige Vergewaltigung des Geistes bedeutete«.
In seinem Urteil erhob das Gericht schwere Vorwürfe gegen die Geschäftsleiter des westlichen Zeiss Betriebes. Die Oberkochener »Konzernherren« hätten ihre Verkaufsniederlassung in Westberlin »zu einer regelrechten Agentenzentrale ausgebaut« mit der Aufgabe, »die Abwerbung von Spezialisten und Fachkräften aus dem Betrieb Jena sowie Werksspionage zu Gunsten des westlichen Betriebes durchzuführen«.
Die Urteile ergingen im Oktober 1953. Inzwischen hatte der Volksaufstand die DDR erschüttert. Nach seinem tragischen Scheitern kam es überall im »Arbeiter und Bauernstaat«, auch in Jena, zu Massenverhaftungen. Abermals übernahm der erwähnte Rechtsanwalt die Verteidigung eines Zeissianers, des Feinmechanikers Eckardt Norkus. Er hatte im Hof des Hauptwerkes zum Streik aufgerufen und galt deshalb als »Rädelführer«. Er erhielt drei Jahre Zuchthaus. Nach der Haftentlassung ging er mit der Familie nach Oberkochen, wo er als Dreher arbeitete.
Flucht nach Westberlin
Abermals hatte sich der Anwalt für einen »Volksschädling« stark engagiert, was die Stasi als »Provokation« wertete. Da blieb nur die Flucht nach Westberlin. Er meldete sich in Oberkochen und berichtete über die Prozesse gegen die Zeissianer. Überall sei der Hass der SED Funktionäre gegen Zeiss Oberkochen spürbar gewesen. Die immer noch kleine Firma mit ihren 2500 Mitarbeitern operierte auf dem Weltmarkt um vieles erfolgreicher als der schwerfällige Staatsbetrieb in Jena. Ernsthaft hätten die Genossen gedroht, den Westberliner Zeiss Filialleiter und seine Sekretärin in den Ostsektor zu entführen und »zur Rechenschaft zu ziehen«. Von konkreten Plänen wissen wir jedoch nichts. Immerhin liegen in den Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit zwei »Fahndungsersuchen: Alle Volkspolizeistationen waren angewiesen, den Filialleiter und seine Sekretärin bei Auftauchen festzunehmen«.
Wenig später prophezeite ein SED Funktionär in Jena: Man werde noch den Tag erleben, an dem die Werkstore in Oberkochen die Aufschrift tragen: »VEB Carl Zeiss Jena, Fertigungsstätte Oberkochen«. Ein Glück, dass es anders gekommen ist.
Der Verfasser ist emeritierter Professor an der Universität Stuttgart. Er hat kürzlich ein Buch zum Thema »Zeiss« vorgelegt: Und trotzdem Brüder. Die deutsch-deutsche Geschichte der Firma Carl Zeiss. Piper Verlag München 2002. 569 S. mit 63 Abb. 9,90 Euro.